Im August 2010 bin ich im Hinblick auf den 25ten Jahrestag des Reaktor Unfalls nach Tschernobyl gefahren. Es war ein sehr heißer Sommer. In den ICE’s fielen reihenweise die Klimaanlagen aus und die Nachrichten aus dem Osten klangen nicht wirklich beruhigend. Die Wälder vor Tschernobyl ständen in Flammen, so hatte man den Eindruck.

Auch heute noch sind das Wild und die Pilze in Bayern durch die Katastrophe 1986 stark belastet. Immer noch müssen geschossene Wildschweine „entsorgt“ werden, weil der zulässige Grenzwert weit überschritten wurde. Damals war ich neugierig, denn wenn wir in Bayern, viele Kilometer entfernt noch die Auswirkungen der Katastrophe spürten, wie muss es dann erst direkt in unmittelbarer Nähe sein?

Von Kiew aus bin ich dann zusammen mit Markus Büchler gestartet. Begleitet wurden wir von einem englischsprachigen, ortskundigen Guide und einem Fahrer, der uns mit seinem (vermutlich) privaten PKW in die „Todes“-Zone bringt.

Nach aufwändiger Grenzkontrolle mit Passierschein und genauer Überprüfung unseres Besuchswunsches fahren wir in die Stadt Tschernobyl, in der bis zum Unglückszeitpunkt bis zu 50.000 Einwohner zählte. Heute leben hier leben zeitweise bis zu 3.000 Menschen. Es muss der Rückbau der Reaktorblöcke und die Sicherung des „Unglück-Reaktors“ überwacht werden. Ubrigens lieferten die drei intakten Blöcke des Kraftwerks nach dem Unglück noch bis ins Jahr 2000 Strom.

_MG_8624In einem Info-Zentrum werden wir über die Zone und die Strahlung informiert. Unserer Bitte nach einem Geigerzähler ist man zwar nachgekommen, fand es aber eher ungewöhnlich und eher lächerlich, denn es strahlt, wie hoch ist letztendlich doch egal und unser Guide weiß schließlich wo er mit uns entlanggehen kann.

Im Besucherzentrum haben wir zum Abschluss der „Stadtrundfahrt“ in der Kantine gegessen.

Hier einige Bilder, die einen Eindruck über die Situation in Pripjat und Tschernobyl wiedergeben:

Bilder aus Tschernobyl

 

Im Vortrag haben wir mit Archivaufnahmen und Videosequenzen gezeigt,  was nach der Katastrophe von den Sowjets zunächst an Lösch- und Aufräumarbeiten geleistet werden musste. Erste und wichtigste Aufgabe war, den Graphitbrand zu löschen, dessen hochradioaktive Rauchfahne ganz Europa massiv bedrohte. Helikopter der Roten Armee warfen Tausende Tonnen Sand, Blei und Zement ab, unter Lebensgefahr für die Besatzungen. Pripjat wurde schon 30 Stunden nach der Havarie aufgegeben. Binnen zweier Stunden transportierten 1200 Bussen alle 50.000 Einwohner ab. Es blieb indes nicht bei der Evakuierung von Pripjat. Wie sich herausstellte, waren riesige landwirtschaftlich geprägte Gebiete unbewohnbar geworden. 350.000 Menschen mussten letztendlich für immer ihre geliebte Heimat verlassen. Ihre Dörfer wurden zum Teil mit schwerem Räumgerät dem Erdboden gleichgemacht.

Die Aufräumarbeiten, die „Liquidation der Folgen“ wie es im Amtsrussisch heißt, umfassten das Aufsammeln der am stärksten strahlenden Gegenstände in der Region um Tschernobyl sowie den Bau des Sarkophags, einer Ummantelung des explodierten Reaktors. Die meist freiwilligen Helfer werden demnach Liquidatoren genannt. 800.000 Männer und Frauen waren im Einsatz und setzten ihr Leben aufs Spiel. Ein Beispiel: Da ferngesteuerte Roboter aufgrund der Strahlenbelastung ihren Dienst versagten, mussten die durch die Explosion verteilten Bruchstücke vom Dach der benachbarten Gebäude manuell mit dem Spaten entfernt werden. Die Strahlenbelastung war so hoch, dass die Arbeiter, die sich „Bioroboter“ nannten, maximal 40 Sekunden auf dem Dach aufhalten durften. Danach war ihre Lebensdosis an Strahlung erreicht. Sie bekamen eine Urkunde, ein paar Hundert Rubel und durften nach Hause fahren. Wer von uns würde freiwillig oder auf Befehl für 40 Sekunden auf dem Dach von Isar 1 Kernbrennstäbe und seine Lebensdosis Radioaktivität sammeln wollen? Was wäre, wenn niemand diese unausweichlich notwendige Aufgabe übernimmt?

Der Lichtbildvortrag zeigt die Stadt Pripjat heute. Die Einfallstraße, einst ein vielbefahrener Boulevard gleicht einem Forstweg. Links und rechts sind Birken, Erlen und Weiden aufgeschossen, die vielstöckigen Wohnblocks sind kaum erkennbar. Von der Aussichtsterrasse eines Hotels erhält man einen Überblick über die verwilderte Stadt. Der Bildspaziergang führte durch Kulturpalast, Kino, Schwimmbad, Turnhalle. Die Zeit ist hier 1986 plötzlich und unfreiwillig stehen geblieben. Alle Menschen sind weg. Für immer. Es herrscht Totenstille in der Stadt, gespenstisch, unwirklich.

inzig die Natur kann sich hier ohne menschliche Einflüsse bestens entfalten. Die Rückeroberung der aufgelassenen Landschaften durch die Natur ist ein einmaliger und spannender Vorgang für Biologen und Ökologen. Riesige Tierpopulationen haben sich entwickelt, darunter Wölfe, Elche, Luchse, Wildschweine, Rotwild, Nager und viele andere. Sogar das vom Aussterben bedrohte Przewalski-Pferd fand hier eine neue Heimat. Inwieweit die Strahlung die Tiere schädigt ist umstritten. Klar ist nur eines: es gibt genau eine Spezies, die mit der Strahlung sicher nicht zurecht kommt – das ist der Mensch.

Der Rundgang durch Pripjat führte die Besucher des Vortrags weiter zum Vergnügungspark, der zum 1. Mai 1986 hätte eröffnet werden sollen. Das Riesenrad, die Schiffsschaukel, der Autoscooter, auf die sich die Kinder gefreut hatten, sollten sich aber nie in Bewegung setzen. Sie wurden zum Symbol für den tragischen Verlust aller Hoffnungen und Zukunftspläne der zumeist jungen Bewohner dieser neu aus dem Boden gestampften Retortenstadt und bleiben als Mahnmal stehen, bis der Rost sie zusammenfallen lässt.
Es geht weiter in Schule und Kindergarten, den traurigsten Orten des visuellen Rundgangs. „Schützen wir unsere heimatliche Natur!“ steht auf einer roten Fahne, heruntergerissen im Staub am Boden liegend. Der Naturschutz war, wie bei uns, in den Achtzigern auch in der Sowjetunion ein wichtiges Thema. In der Aula des Schulgebäudes zeigt sich ein Meer aus Kindergasmasken. Diese Masken, aus Furcht vor einem Giftgasangriff des Westens stets bereit gehalten, wurden den Kindern am Tag nach der Explosion und vor der Evakuierung aufgesetzt. Natürlich schützten sie nicht vor Strahlung, vermindern aber immerhin die Inhalation radioaktiven Staubs.
Die Bilder aus dem Kindergarten sind ergreifend. Die Kinderspielsachen in den Gruppenräumen, die Puppen, die Kuscheltiere, die Rutscheautos: alles steht spielbereit da, aber das Berühren ist streng verboten. Die Strahlung ist zu hoch. Nie wieder wird ein Kind die Puppen in die Hand nehmen können. Der Bildervortrag führte durch Kindertoiletten, Kinderwaschraum und Kindergarderobe zum Schlafsaal, wo die Betten für immer auf müde Kinder warten. Was mag aus den Kindern geworden sein, die hier geschlafen haben? Wieviele von ihnen werden Schilddrüsenkrebs bekommen haben, Operationen und Chemotherapien durchlitten haben und bis heute an den Folgen leiden? Genaue Zahlen gibt es nicht, da die Bewohner in alle Teile der Sowjetunion verzogen sind. Immerhin gibt es amtliche Statistiken über Krebsraten in den umliegenden Gebieten Weißrusslands, Russlands und der Ukraine außerhalb der Sperrzone. Diese sind erschreckend. Insgesamt ist mit 30.000 bis 60.000 zusätzlichen Todesfällen durch Krebs zu rechnen. Hinzu kommen Todesfälle durch andere Krankheiten wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Krankheiten aber auch durch Selbstmord.

Der Besuch der Sperrzone ist für jeden, der sich für die Risiken der Atomkraft interessiert, lohnend. Den Anblick des Kinderspielzeugs, die Gasmasken, die gespenstische Leere in der Stadt werden die beiden Reisenden nicht vergessen und bleiben vielleicht auch im Gedächtnis der Besucher des Vortragsabends hängen.

Wer sich über das unendliche Leid der 350.000 entwurzelten Evakuierten und der 800.000 Liquidatoren informiert hat, kann in Fragen der Atomkraft nicht mehr schwanken und zögern. Auch wenn von den Profiteuren der Atomreaktoren noch so oft behauptet wird, unsere AKWs seien sicher:

Alleine der Gedanke an einen Flugzeugabsturz auf einen Atomreaktor macht sofort klar: Atomkraft ist unverantwortlich, Atomkraft verzeiht keine Fehler! Deshalb kann es nur eine Reaktion auf Tschernobyl und Fukushima geben: weg von der Atomkraft, hin zu erneuerbaren Energien.

 

Hier noch einige Links:

Wikipedia-Eintrag über die Katastrophe von Tschernobyl mit genauem Unfallhergang:
http://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophe_von_Tschernobyl

Website ehemaliger Bewohner von Pripyat über die aufgelassene Stadt:
www.pripyat.com

Website über die Sperrzone:
http://lplaces.com/

Dokumentarfilm: „Die letzten Minuten vor dem GAU“:
http://www.youtube.com/watch?v=vsiwSU3GLMg

Film: „Die Wahre Geschichte von Tschernobyl“:
http://www.youtube.com/watch?v=-TgczLGbZSA

Video des Musikbeitrags der Ukraine zum European Song Contest ESC (Grand Prix d’Eurovision) 2010 mit Bildern aus Pripyat. Die Sängerin Alyosha ist nur wenige Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl geboren worden und verleiht ihrem persönlichem Bezug in diesem Lied Ausdruck.

Video des englischen Rappers Example (geboren 1982 als Elliot John Gleave – sein Name leitet sich aus seinen Initialen e.g. (lat. exempli gratia) ab – Promotion Track für sein 2007 erschienenem Album „What we made“, es wurde in Pripjat gedreht:

Das Making-of: http://www.youtube.com/watch?v=wQaYEncKZXQ

20 FAkten über Atomkraft (Grüne Bundesverband):
http://www.gruene.de/einzelansicht/artikel/20-fakten-ueber-atomkraft.html

Eine gute Übersicht über an die Öffentlichkeit (nicht tatsächlichen ereigneten) gedrungenen Störfälle, inkl. Erklärung von INES – Einstufung der Störfälle nach Kategorien und weiteren Linktipps:
http://www.akw-unfaelle.de/

Wie sind die Geldinstitute mit der Kernkraft verbandelt?
www.nuclearbanks.org

Greenpeace Infos zum Thema:
www.greenpeace.de/themen/atomkraft/

Infos der Heinrich Böll Stiftung zum Thema:
http://www.boell.de/oekologie/klima/klima-energie-dossier-mythos-atomkraft-9022.html
Empfehlenswert ist die Schriftenreihe Nr. 12 Mythos Atomkraft – Warum der nukleare Pfad ein Irrweg ist

Mein Besuch in Tschernobyl